Ich bin die Lahn. Ich fließe ruhig durch das Land, sanft und beständig. Menschen kommen und gehen, gleiten über meine Oberfläche, und ich sehe sie alle. Doch diese Woche war etwas Besonderes – eine Gruppe von 20 Schülern, 3 Lehrern und Django, dem Schulhund der GHS, machten sich auf, mich 6 Tage lang in Kanadiern zu erkunden, von Gießen bis nach Limburg. Eine lange Reise, ca. 90 Kilometer, nicht nur für die Schüler, sondern auch für mich, denn ich beobachtete, wie sie Tag für Tag etwas Neues lernten – über mich, über das Paddeln und vielleicht auch über sich selbst.

Am Anfang, als sie in Gießen mit viel Gepäck und Zelten und ihren Schwimmwesten in die Boote stiegen, schien es ihnen einfach. Ein Kanu, ein Paddel, und schon würde es losgehen. Doch nach nur zwei Paddelschlägen konnte ich ihnen zeigen, dass die Natur des Wassers nicht von ihrer Vorstellung, sondern von der Physik bestimmt wird.  Zunächst fuhren sie im Zickzack. Ihre Boote schwankten von einer Seite zur anderen, oft ganz anders als sie es beabsichtigten. Ich konnte ihre Verwirrung spüren – warum steuerten sie nicht geradeaus? Warum endeten sie immer wieder an meinen Ufern, wo sie gar nicht hinwollten?

Es dauerte eine Weile, bis sie verstanden, dass es nicht nur um Kraft ging, sondern auch um Koordination und Konzentration. Die Schüler im vorderen Teil der Kanadier paddelten oft wild und voller Eifer, während die Hinteren, die das Steuern übernommen hatten, noch nicht genau wussten, wie sie ihre Rolle spielen sollten. Sie lernten schnell, dass ein kräftiger Schlag auf einer Seite das Boot nicht nur vorwärts, sondern auch seitwärts lenkt. Und so begannen sie, miteinander zu reden, ihre Bewegungen abzustimmen. Einer paddelte links, der andere rechts – und allmählich wurde der Kurs gerader. Es war faszinierend zu beobachten, wie aus chaotischem Zickzack sanfte, gleichmäßige Bewegungen wurden.

Ich half ihnen dabei, indem ich ihnen meine Strömungen zeigte. Manchmal ließ ich sie schneller gleiten, wenn sie mich richtig nutzten, und manchmal verlangsamte ich sie, wenn sie gegen meine Strömung arbeiteten. Die Schüler begannen, auf mich zu achten, die kleineren Bewegungen meiner Wellen wahrzunehmen und ihre Paddelschläge daran anzupassen. Sie merkten, dass das Paddeln mehr war, als bloße Kraft – es war ein Gefühl für den Fluss, ein Verstehen, wie ich sie führen konnte, wenn sie mich richtig lasen.

An meinen Ufern gab es viel zu sehen. Burgen, Tiere, Wälder, kleine Dörfer – Orte, die Geschichten von längst vergangenen Zeiten erzählen. In Wetzlar hielten sie das erste Mal an, und ich erinnere mich an das Lachen der Schüler, als Sie in mir schwammen, die Zelte aufbauten und eine erste, erschöpfte Nacht am Fluss verbrachten. Es war eine kurze Pause, aber sie gaben mir das Gefühl, dass sie sich mit mir verbunden fühlten – dass ich nicht nur der Fluss war, der sie trug, sondern ein Teil ihrer Abenteuerreise.

Es gab Momente, in denen ich ihnen auch andere Lektionen beibrachte. Boote gerieten das eine oder andere Mal zu nahe an ein tiefhängendes Astwerk, und ein lautes Schreien, Kreischen und gar unfreundliche Töne, gemischt mit Lachen aus den anderen Booten, erfüllten die Luft, als sie versuchten, die Boote aus der misslichen Lage zu befreien. Sie lernten, auf mich und die Umgebung zu achten, die Augen offen zu halten, die Natur nicht nur als Kulisse, sondern als Teil ihres Weges zu sehen. Diese Lektionen waren sanft, fast spielerisch, aber sie schärften ihre Sinne.

Das Wetter war dabei so wechselhaft wie ihr Lernfortschritt. Mal schien die Sonne warm auf ihre Gesichter, glitzerte auf meinen Wellen und ließ die ganze Gruppe entspannt vor sich hin paddeln. Dann plötzlich schob eine kühle Brise dunkle Wolken über den Himmel, und der Regen kam, und ich sah, wie ihre Bewegungen schneller und konzentrierter wurden, als ob sie sich beeilten, einem unbestimmten Ziel entgegen. Doch unabhängig vom Wetter war es ihre Beziehung zu mir, die sich veränderte – das Paddeln wurde für sie nicht nur ein Mittel, um zum Ziel zu kommen, sondern ein Spiel mit den Kräften des Wassers, des Windes und ihrer eigenen Bewegungen.

So hatten die Schüler den Fluss als Lehrer und den Hund Django als Kapitän der Flottille. Django stand stets einer Galionsfigur gleich im Bug des größten Kanus und beobachtete aufmerksam das Treiben der Boote. Wenn sich ein Boot zu weit entfernte, heulte er als Wachhund wie ein Nebelhorn über den Fluss, so dass es mir eine Freude war. Einmal musste ich sehr lachen, weil Django an einer Schleuse unentschlossen die Vorderpfoten auf eine Treppenstufe stellte, während seine Hinterpfoten noch im Boot waren. Dann drehte der Steuermann den Bug und der verdutzte Hund wurde länger und länger und platsch, fiel er mit einem Bauchklatscher ins Wasser. Er nahm es mit Humor und ich geleitete ihn sanft ans Ufer, wo er sich energisch schüttelte. Die Schüler konnten hingegen den unfreiwilligen Wasserkontakt erfolgreich vermeiden, noch nicht einmal die beängstigenden Bootsrutschen konnten ihnen etwas anhaben.

In Weilburg, wo der Tunnel und die Doppelschleuse sie zwangen, kurz innezuhalten, nutzten sie die Gelegenheit, um sich auszuruhen und zu plaudern. Ich hörte ihren Gesprächen zu, wie ich es schon immer getan habe und musste innerlich lächeln. Wie so viele Menschen vor ihnen, begannen sie zu verstehen und den Fluss als Lebensader zu begreifen.

Am Abend bauten sie an meinen Ufern ihre Zelte auf und machten Feuer – wie tausende Generationen vor Ihnen. Mich überkam ein Gefühl von Romantik, denn diese Nähe und Verbundenheit hatte ich in den letzten Jahren immer mehr vermisst. Die Menschen werden immer hektischer, immer schneller – sie fahren auf meiner Strömung, um Party zu machen und abends verschwinden sie wieder. Da war es ermutigend zu sehen, wie junge Menschen lernen, die Schönheit der Natur zu genießen.

Als sie sich Limburg näherten, hatten sie das Gefühl, mich verstanden zu haben. Die Boote glitten fast mühelos über mein Wasser, und die Schüler waren eins mit den Paddeln und den Kanadiern. Es war, als ob sie den Rhythmus gefunden hätten, der mich und sie verband. Keine hastigen Zickzack-Bewegungen mehr, sondern eine fließende, ruhige Fahrt, die ihre Reise abrundete – und viele wären gerne noch weiter gepaddelt.

Ich bin die Lahn. Ich freue mich über die nächste Gruppe der GHS, denen ich auf meine ruhige Art eine Lektion über den Fluss, das Leben und sich selbst beibringen könnte.

Milan Dlabal und Andrea Scherpner

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